Selbstschädigendes Verhalten und
Suizidalität bei Kindern

Was ist selbstschädigendes Verhalten?

Im Jugendalter zeigen fast alle Kinder eine erhöhte Bereitschaft für potentiell riskante Verhaltensweisen. Das ist normal und Teil der Entwicklung. Je nach Schweregrad und Häufigkeit der Verhaltensweisen können diese mit einer Selbstschädigung sowie psychischen Problemen einhergehen. Selbstschädigendes Verhalten ist ein Oberbegriff und es gibt viele verschiede Formen von solchen Verhaltensweisen. Im Jugendalter weit verbreitete Formen sind beispielsweise:

  • Alkohol- und Drogenkonsum
  • Sexuelles Risikoverhalten
  • Exzessive Medien- oder Internetnutzung
  • Massive Essanfälle
  • Kriminelles Verhalten
  • Impulsives Verhalten
  • Nicht-suizidale Selbstverletzung
  • Suizidales Verhalten

Selbstverletzendes Verhalten ist somit eine Form von selbstschädigendem Verhalten, das mit körperlichen Verletzungen einhergeht. Auf die beiden Formen nicht-suizidale Selbstverletzung und suizidales Verhalten möchten wir im Weiteren ausführlicher eingehen.

 

Was ist nicht-suizidale Selbstverletzung?

Nicht-suizidale Selbstverletzung beschreibt das bewusste, freiwillige und wiederholte Zufügen von Körperverletzungen, ohne die Absicht sich damit das Leben zu nehmen. Die Methoden der Verletzungen sind dabei vielfältig, in der Regel nicht sozial akzeptiert und können beispielsweise folgendes umfassen: sich schneiden („Ritzen“), kratzen oder aufreiben der Haut, verbrennen, ausreißen der Haare, knibbeln an Wunden, beißen, den Kopf oder die Faust gegen die Wand schlagen, sich einen Gegenstand unter die Fingernägel oder die Haut schieben.

 

Warum verletzen sich Jugendliche selbst?

In den meisten Fällen geht der Selbstverletzung ein negativer Spannungszustand voraus. Das bedeutet, dass die Jugendlichen so starke unangenehme Gefühle (z. B. Wut, Angst oder Traurigkeit) und Gedanken (z. B. „Keiner versteht mich“) haben, dass diese innere Spannung als kaum aushaltbar empfunden wird. Um diese negative Spannung abzubauen, verletzen sie sich selbst. Viele Jugendliche, die sich regelmäßig verletzen, berichten, dass sie anschließend eine kurze Erleichterung von ihren negativen Gefühlen und Gedanken spüren. Einige Jugendliche berichten auch, dass sie sich verletzen, um sich zu bestrafen oder weil sie sich selbst spüren möchten – auch wenn dies Schmerz bedeutet. Selbstverletzendes Verhalten erfüllt damit eine Funktion, für die viele der betroffenen Kinder und Jugendlichen noch keine alternativen Verhaltensweisen kennen gelernt haben, die diese Funktion stattdessen erfüllen könnten. Kurz gesagt: Sie wissen nicht, wie sich anders helfen können.

 

Wie häufig ist nicht-suizidale Selbstverletzung?

Etwa ein Drittel der in Deutschland lebenden Jugendlichen berichten, dass sie sich mindestens ein Mal in ihrem Leben selbst verletzt haben und etwa 12% aller Jugendlichen verletzen sich regelmäßig selbst. Die meisten Jugendlichen beginnen im Alter von ungefähr 13 Jahren mit dem selbstverletzenden Verhalten. Kinder, die in Pflege- und Adoptivkontexten aufwachsen, haben ein erhöhtes Risiko im Jugendalter ein selbstverletzendes Verhalten zu zeigen. Zu den Risikofaktoren, die nicht-suizidale Selbstverletzung begünstigen, gehören unter anderem: Kindesmisshandlung und Vernachlässigungserfahrungen, Bindungsprobleme, ein Elternteil mit psychischer Erkrankung, Suizidversuche in der Familie, Mobbingerfahrungen, Freunde, die sich ebenfalls verletzen und Schulprobleme.

 

Wie reagiere ich, wenn mein Kind sich selbst verletzt?

Als Eltern zu erfahren, dass das Kind sich selbst verletzt, kann ein Schock sein. Eltern fühlen sich häufig hilflos, traurig, verärgert, machen sich Sorgen oder haben Schuldgefühle (z. B. „Wie konnte ich das so lange übersehen?“). Sollten Sie in diese Lage kommen, berücksichtigen Sie das Folgende:

 

DOs

  • Sorgen Sie für eine medizinische Behandlung der Wunden
  • Bleiben Sie ruhig und mitfühlend
  • Nehmen Sie die Gefühle Ihres Kindes ernst (z. B. „Das scheint dich sehr zu belasten.“, „Ich verstehe, dass dich das so wütend macht“)
  • Signalisieren Sie, dass Sie aufmerksam zuhören
  • Merken Sie an, dass sich Ihr Kind nicht dafür schämen muss
  • Fragen Sie nach, was Ihr Kind belastet und was Sie im Moment tun können, um ihm/ihr zu helfen (z. B. wenn ihr Kind von belastenden Situationen in der Schule spricht)
  • Infomieren Sie sich zunächst in Ruhe über professionelle Hilfeangebote, bevor Sie Ihr Kind vorschnell damit konfrontieren
  • Besprechen Sie anschließend die Möglichkeiten mit Ihrem Kind und geben Sie Hoffnung (z. B. „Ich verstehe, dass es sehr schwer ist für dich mit diesen Gefühlen umzugehen und es dir danach erst einmal besser geht. Es gibt Menschen, die uns andere Wege zeigen können, um mit diesen Gefühlen umzugehen“).
  • Suchen Sie Hilfe auf (z. B. Psychotherpeut*innen, Psychiater*innen, Kinderärzt*innen oder auch Beratungsstellen).

 

DON´Ts

  • Unterschätzen Sie das Verhalten nicht. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass Jugendliche sich selbst verletzen, um „Aufmerksamkeit“ zu bekommen oder dass es sich dabei „um eine Phase oder Laune“ handelt. Dies ist in den meisten Fällen nicht der Fall. 
  • Vermeiden Sie es zu stark geschockt zu reagieren (z. B. „Um Gottes Willen, was soll das denn? Bist du verrückt, dir sowas anzutun?“).
  • Verurteilen Sie Ihr Kind nicht, um Schuld- und Schamgefühle zu vermeiden (z. B. „Das ist ja grausam, sich sowas anzutun!“, „Das sieht ja schrecklich aus!“).
  • Vermeiden Sie Drohungen und verbieten Sie nicht das selbstverletzende Verhalten (z. B. „Wenn du nicht sofort damit aufhörst, musst du in die Klinik“). Bedenken Sie, dass das Verhalten einen Zweck erfüllt, für den Ihr Kind noch keine alternativen Verhaltensweisen kennt.
  • Vermeiden Sie es, Ihr Kind unter Druck zu setzen, indem Sie es zu einem Gespräch oder einem voreiligen Hilfeangebot drängen (z. B. „Wenn du nicht mit mir darüber reden willst, rufe ich halt jetzt in der Klinik an“).
  • Vermeiden Sie, dass Ihr Kind sich detailliert mit Gleichaltrigen über die Selbstverletzung austauschen kann.
  • Becker, K., Kaess, M. & Plener, P. L. (2017). Suizidalität und nicht-suizidale selbstverletzende Verhaltensweisen im Kindes-und Jugendalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 45, 437-440.
  • Brunner, R., Kaess, M., Parzer, P., Fischer, G., Carli, V., Hoven, C. W., ... & Balazs, J. (2014). Life‐time prevalence and psychosocial correlates of adolescent direct self‐injurious behavior: A comparative study of findings in 11 European countries. Journal of Child Psychology and Psychiatry55(4), 337-348.
  • Martin, J., Bureau, J. F., Yurkowski, K., Fournier, T. R., Lafontaine, M. F. & Cloutier, P. (2016). Family-based risk factors for non-suicidal self-injury: Considering influences of maltreatment, adverse family-life experiences, and parent–child relational risk. Journal of Adolescence49, 170-180.
  • Plener, P. L., Fegert, J. M. & Freyberger, H. J. (2012). Nicht-suizidale Selbstverletzung (NSSV) und Suizidalität in der Adoleszenz. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. 60(1), 27-34.
  • Toste, J. R. & Heath, N. L. (2010). School response to non-suicidal self-injury. The Prevention Researcher17(1), 14-17.

 

Was ist Suizidalität?

Suizidalität umfasst sowohl Gedanken darüber, sich das Leben zu nehmen, den Suizidversuch an sich bis hin zu der willentlichen Beendigung des eigenen Lebens. Während suizidales Verhalten im Kindesalter noch seltener auftritt, ist es im Jugendalter deutlich wahrscheinlicher. Zu den Risikofaktoren, die Suizidalität im Jugendalter begünstigen, gehören unter anderem: Psychische Erkrankung (z. B. Depression, Impulskontrollstörungen, Psychotische Störungen, Persönlichkeitsstörungen oder Essstörung), Alkohol- und Drogenmissbrauch, Kindesmisshandlung und Vernachlässigung, Suizide und Suizidversuche in der Familie, Mobbingerfahrungen (als Betroffene oder auch als Mobber*innen) und früherer Suizidversuch. Bis zu einem Drittel der Jugendlichen versucht sich nach einem Suizidversuch erneut das Leben zu nehmen. Von einem Suizid oder Suizidversuch sind viele Personen direkt oder indirekt betroffen. So kommt es zum Beispiel häufig zu Folgesuiziden bei Jugendlichen an dem gleichen Ort oder in derselben Schule, wenn sich ein*e Mitschüler*in umbringt.

 

Wie hängen Suizidalität und nicht-suizidale Selbstverletzung zusammen?

Nicht-suizidale Selbstverletzung und Suizidalität lassen sich durch die Absicht, sich das Leben nehmen zu wollen, unterscheiden. Dennoch ist nicht-suizidale Selbstverletzung ein Risikofaktor für Suizidalität. Kinder und Jugendliche, die sich selbst verletzen, zeigen im späteren Entwicklungsverlauf eine höhere Wahrscheinlichkeit für Suizidalität. Insbesondere Jugendliche, die sich an anderen Stellen als an den Armen verletzen, berichten häufiger von Suizidgedanken und haben häufiger Suizidversuche. Zudem berichten einige Jugendliche mit Suizidgedanken, dass sie sich momentan selbst verletzten, um sich eben nicht das Leben nehmen zu müssen.

 

Warnsignale, die Hinweise für ein erhöhtes Suizidrisiko sein können:

  • Andeutungen, sterben zu wollen (z. B. „Es wäre für alle besser, wenn ich tot wäre“, „Ich wünschte, ich wäre nie geboren“)
  • Drohungen, sich das Leben nehmen zu wollen (z. B., „Wenn das so weiter geht, bringe ich mich um“, „Ich halte das nicht mehr aus und möchte dem ein Ende setzen“)
  • Zunehmender Konsum von Alkohol oder Drogen
  • Sich von anderen Menschen – wie Familie und Freunden – zurückziehen
  • Sich stark mit dem Thema Tod beschäftigen (z. B. in Zeichnungen, Aufsätzen oder Liedern)
  • Suizidversuche in der Vergangenheit
  • Stimmungsänderung: Insbesondere ein positives Stimmungshoch bei zuvor niedergeschlagenen Kindern und Jugendlichen. Grund für die verbesserte Stimmung kann sein, dass der endgültige Entschluss gefasst wurde, dem Leid ein Ende zu setzen.
  • Ausdruck von Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit (z. B. „Es ist eh alles sinnlos“, „Ich fühle mich gefangen“, „Es wird eh nie besser werden“)
  • Deutliche Verhaltensänderungen (z. B. sozialer Rückzug, rücksichtsloses Verhalten, ungewöhnlicher Ausdruck von Wut)
  • Vernachlässigung des eigenen Aussehens (z. B. eine Jugendliche, die vorher viel Wert auf Kleidung, Haare und Make-up gelegt hat, vernachlässigt dies nun)
  • Es werden persönliche (Wert-)Gegenstände verschenkt (z. B. das liebste Computerspiel)
  • Besorgen von Mitteln, um einen Suizidplan in die Tat umsetzen zu können (z. B. Tabletten, Waffe, Strick)
  • Schlechte Leistungen in der Schule
  • Häufige Unfälle oder körperliche Beschwerden ohne eine medizinische Ursache

 

Was soll ich tun, wenn ich den Verdacht habe, dass mein Kind über Suizid nachdenkt?

Wählen Sie einen ruhigen Zeitpunkt und sprechen Sie das Thema an. Schildern Sie, was Ihnen aufgefallen ist und fragen Sie konkret nach, ob Ihr Kind manchmal darüber nachdenkt, sich das Leben zu nehmen. Versuchen Sie, sich die Gefühle, Probleme und Belastungen Ihres Kindes so konkret wie möglich erklären zu lassen. Signalisieren Sie, dass Sie Ihr Kind verstehen wollen und für ihn oder sie da sind. Bleiben Sie ruhig und vermitteln Sie Ihrem Kind die Zuversicht, dass Sie es dabei unterstützen werden einen Ausweg zu finden. Manchmal ist es sehr schwierig einzuschätzen, wann Gedanken an den eigenen Tod noch „normal“ sind und ab wann Suizidgedanken so konkret werden, dass professionelle Hilfe notwendig wird. Beratungsstellen und telefonische Beratungsangebote können Sie dabei unterstützen, die Situation besser einzuschätzen und mit ihr umzugehen. In akuten Krisen können Sie auch den Sozialpsychiatrischen Dienst oder die Psychiatrische Notaufnahme einer Klinik in Ihrer Nähe anrufen. Ist Ihr Kind in akuter Lebensgefahr, zögern Sie nicht die 112 zu wählen.

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